Traumatisiert! Und doch (wieder) glücklich

Mein Kind hat eine schwerwiegende seltene Erkrankung. Die Diagnose bedeutet für die meisten Eltern das Gleiche wie für mich: Schock, Weltuntergang, Trauma. Wie kann man je wieder glücklich werden?

Es gibt zwei Erlebnisse, an die ich mich immer und immer wieder erinnere. Wie Flashbacks suchen sie mich heim. Nicht nur dann, wenn die Sorge um Bubi mal wieder groß ist. Viel schlimmer sind die ruhigen Momente, wenn ich im Garten sitze und auf unsere beiden großen Eichenbäume schaue, oder beim Laufen durch den Wald. Dann ist alles wieder da. Die Bilder der Erinnerung.

Immerhin sind diese Erinnerungen nicht mehr so erdrückend, dass ich sofort anfangen muss zu weinen oder verzweifelt an die Zukunft denke. So wie damals. Heute ist es eher ein düsterer Schleier, der für einen kurzen Moment die Sicht vernebelt. Der den Blick auf das Geschaffte und Gute verstellt. Wenn die Bilder verschwunden sind, ist die Erleichterung groß, weil diese Erlebnisse nun schon einige Jahre zurückliegen und wir es geschafft haben, nicht daran zu verzweifeln. Denn genau so fühlte es sich damals an. Als ob unsere Welt untergeht. Und wir mit ihr.

Das erste Bild der Erinnerung

Laufen wird er wohl lernen.

Wenn das erste Bild der Erinnerung erscheint, dann sehe ich mich im Treppenhaus eines düsteren Hauses aus den 1960er Jahren. Praxis für Neuropädiatrie. Unseren elf Monate alten Sohn trage ich auf meinem Arm. Zitternd rufe ich meinen Mann an. Erreiche ihn nicht. Dann unter Tränen wähle ich die Nummer meines Schwiegervaters, seines Zeichens auch Neuropädiater. Ich stehe unter Schock, kann kaum atmen, muss die ganze Zeit weinen, er versteht mich kaum. Ich wiederhole mehrmals: „Sie sagte: Laufen wird er wohl lernen.“

Meine Gedanken rasen. Was heißt „Laufen wird er wohl lernen“?! Natürlich wird er das. Das steht doch gar nicht zur Debatte. Oder doch? Bis vor einer Stunde hatte ich noch ein gesundes Kind, etwas langsam in der Entwicklung vielleicht, aber grundsätzlich gesund. Was ist geschehen? Es sollte doch nur ein EEG gemacht werden, alle dachten, es wird nichts dabei herauskommen. Nur Sorgen einer Mutter eben. Und jetzt?

Laufen wird er wohl lernen. Oder nicht?

Ich weiß nicht, wie ich zum Auto gekommen bin. Habe keine Erinnerung mehr an die Heimfahrt. Nur schemenhaft erinnere ich mich noch an die letzte Szene in der Praxis der Neurologin:  Ich bekomme Fetzten eines Gespräches mit, das sicher nicht für meine Ohren bestimmt ist: Die Arzthelferin fragt, was sie mit unserer Akte machen soll. Die Neurologin sagt: „Suchen Sie mir bitte mal das EEG des kleinen Mädchens mit der Hirnstrukturstörung heraus. Ich will es nochmal vergleichen.“ Was bedeutet das? Das kann doch nur heißen, dass Bubi das auch hat. Ich bekomme keine Luft und renne aus der Praxis.

Mein Schwiegervater hat keine beruhigenden Worte für mich. Er hat gar keine Worte. Er müsste doch wissen, was „Hirnstrukturstörung“ bedeutet. Er sagt, er ruft später nochmal an.

Das zweite Bild der Erinnerung

Da sind ein paar Windungen weniger.

Wochen später das zweite Bild der Erinnerung. Kein Treppenhaus, aber der Wartebereich eines Krankenhauses. Natürlich im Gang. Leute gehen an uns vorbei. Ich sehe mich auf einem Stuhl vorgebeugt, meine schwitzigen Hände knetend. Mantramäßig frage ich meinen Mann wieder und wieder: „Es wird doch nichts Auffälliges herauskommen, oder?“ Als ob ich es damit verhindern könnte. Wir sitzen im Wartebereich vorm MRT. Bubi liegt in Narkose hinter dieser Türe in der Röhre. Keine Ahnung, wie lange wir dort sitzen. Dann werden wir hereingerufen.

Bubi schläft noch auf der Liege, wird gerade von Kabeln und Schläuchen befreit. Kurzes Gespräch mit dem Radiologen vor dem Bildschirm. Darauf zu sehen das Kopfinnere unseres Jungen.  Er zeigt darauf: „Ja, da sind ein paar Windungen weniger als normal.“ Es klingt noch unaufgeregt. Wir haben keine Ahnung, was das heißt. Dann wird der Bub wach, wir halten ihn im Arm. Er lächelt uns an. Wie immer eigentlich, wenn er aufwacht, ist er gut gelaunt.

Ein paar Windungen weniger

Wir gehen zurück auf die Station, machen die Tür zu unserem Zimmer auf. Da sitzen sie schon zu zweit. Die Chefärztin und mein Schwiegervater. Geballte Neurologenkompetenz. Sie sehen sehr ernst aus. An die nächsten Minuten habe ich nur noch vage Erinnerungen, ein paar Wortfetzen „Lissencephalie“, „schwerwiegend“, „Epilepsie“ und „sehr selten“ höre ich. Es täte ihnen leid. Dann gehen sie raus, lassen einen wissenschaftlichen Artikel auf dem Tisch liegen.

Wir lesen den Artikel. Darin steht, dass viele der Kinder, das Entwicklungsniveau eines sechs Monate alten Kindes nicht überschreiten, starke Epilepsien und lebensbedrohliche Atemprobleme entwickeln, in der Regel früh sterben –  insgesamt wohl eine der schlechtesten Prognosen für die Zukunft eines Kindes, die man sich vorstellen kann. Ein schwer mehrfach behinderter Pflegfall. Aber das ist doch nicht unser Kind?! Er kann doch schon viel mehr, als dort beschrieben ist. Und epileptische Anfälle hat er bisher auch keine. Die Ärzte müssen sich irren.

Die Zeit danach

Eigentlich bin ich immer wieder davon überrascht und beeindruckt, wie wir diese schlimme Nachricht haben verarbeiten können, ohne daran zu zerbrechen. Danach sah es am Anfang nicht aus.

Was passiert, wenn Menschen schlimme Nachrichten erhalten? Nachrichten, die sie in ihrer Existenz bedrohen oder die alles in Frage stellen, woran sie bisher geglaubt haben? Nun, jeder verarbeitet solche Dinge auf seine Art und Weise und in unterschiedlichem Tempo. Wie in einem Trauerprozess ist es ein Abschiednehmen vom alten Leben, von Wünschen, Träumen, Hoffnungen. Und das macht traurig. Sehr traurig. Und es dauert lange, sich damit abzufinden, damit leben zu lernen. Dieser Prozess der Trauer kann Monate oder Jahre dauern. Vielleicht bleibt die Trauer auch ein Leben lang. An manchen Tagen denkt man, das Leben ist zu Ende, es macht keinen Sinn mehr, dann kommen wieder Tage, an denen alles viel heller erscheint und man erahnen kann, dass auch so das Leben schön sein kann, wenn auch anders als geglaubt.

Anders als geglaubt

Geglaubt haben wir, dass wir eine kleine Familie sind mit einem Kind, das wie alle Kinder schon irgendwie seinen Weg gehen wird. Wir werden wie alle Eltern die eine oder andere Sorge haben und werden Ängste bewältigen müssen. So ist das eben mit Kindern. Aber letztlich wird auch unser Sohn, na klar, in die Kita und zur Schule gehen, irgendwann einen Beruf erlernen und seiner Wege ziehen. Hoffentlich mit guten Gefühlen und gutem Kontakt zu uns.

Wir waren so unendlich glücklich, als unser Sohn zur Welt kam und konnten dieses Glück die ersten Monate genießen. Hin und wieder war ich besorgt, dass er sich in meinen Augen nicht so schnell entwickelte wie seine Altersgenossen. Ich befragte Ärzte, holte mir zweite und dritte Meinungen ein. Alle, wirklich alle, waren der Meinung, dass alles normal verliefe und ich mir unnötig Sorgen machte. Ich wurde sie dennoch nicht los, meine Sorgen.  Es blieb ein ungutes Gefühl, eine Angst, von der ich keinem erzählte. Weil sie keiner ernst nehmen wollte.

Heute weiß ich, dass ich richtig lag mit meiner Intuition. Half mir nur nichts. Es war dann, als es zur Realität wurde, nicht weniger schlimm. Auch wenn ich etwas ahnte, darauf war ich nicht vorbereitet. Auf so etwas kann man vermutlich nicht vorbereitet sein.

Abschied nehmen

Zuerst waren da nur Tränen. Ich weiß noch, dass ich jeden Morgen mit der Kinderkarre spazieren ging, immer die gleiche Runde. Und ich weiß heute noch, was ich an welcher Stelle des Weges dachte, und wie ich mich fühlte in meiner Verzweiflung. Da ist dieser Baum an der dritten Straße links und die ängstliche Frage, ob wir als Paar an dieser Aufgabe scheitern werden, wenn wir noch in 20 Jahren dann unseren schwerbehinderten jungen Mann pflegen werden. Ein Stück weiter des Weges dieses etwas zu modern geratene Haus mit dem gepflasterten Vorgarten und die Zweifel, ob wir jemals wieder zu zweit verreisen können? Wie lebt man mit einem Kind, das nicht sprechen kann, nie selbständig wird?

Abschied nehmen und neue Wege gehen

Vier Monate bin ich diesen Weg gegangen. Vier Monate tiefe Trauer. Dann bin ich nicht mehr gegangen. Es wurde leichter in meinem Kopf. Bubi kam in die Krippe und es klappte besser als gedacht. In unsere Gespräche beim Abendessen kamen wieder leichte Alltäglichkeiten. Dann plötzlich eines Tages im Auto, das Kind auf der Rückbank, der erste epileptische Anfall. Nun doch. Ein erneuter bitterer Schlag und die Gewissheit, die Ärzte haben doch nicht geirrt. Wenn wir noch an der Diagnose gezweifelt haben, spätestens dann zerschlugen sich die Zweifel in dem Bangen, die Anfälle könnten nicht beherrschbar sein und sein Hirn weiter schädigen. Trotz erneuter Verzweiflung, dieser Einschlag war doch besser zu verarbeiten als die ersten beiden der Diagnosestellung. Wir waren ein Stück weiter, waren stärker. Wir fühlten uns vorbereiteter auf das Schlimme. Oder wir waren robuster, es auszuhalten. Eine Art Akzeptanz des Schlimmen. Zwei weitere Monate später wurden wir aktiver, suchten Hilfe und Kontakte. Wir lernten Menschen kennen, die ein ähnliches Schicksal zu tragen hatten. Das veränderte einiges. Die Fragen nach dem „warum wir“ wurden leiser. Andere haben auch ihr Päcklein zu tragen. Und es geht! Man kann es tragen.  Und nicht nur das: Das Päcklein erscheint einem leichter mit der Zeit.

Die Zeit, das Wachsen und das Glück

Die Zeit heilt alle Wunden. Wer kennt ihn nicht, diesen Spruch. Ich habe ihn immer für fragwürdig gehalten. Aber es ist etwas daran. Trauer braucht Zeit. Mit Aktivität oder ohne. In jedem Fall werden die Wunden weniger schmerzhaft. Eben mit der Zeit.

Die Zeit, das Wachsen und das Glück

Und dann, mit weniger Schmerz, öffnet sich der Blick wieder für schöne Dinge. Da ist es dann plötzlich, das Annehmen des Schicksals. Es ist wie es ist. Ich kann es nicht ändern. Nicht das jedenfalls. Bubis Kopf bleibt wie er ist. Man kann nichts weg oder ranoperieren, es gibt keine Pille dagegen.

Nach einem halben Jahr haben wir sehen können, wie schön dieser Kopf immer noch ist. Obwohl es anders in ihm aussieht oder gerade, weil es so aussieht. Und wir sahen, dass unser Leben nun zwar anders als erwartet, doch aber gut sein kann.

Man wächst mit seinen Aufgaben. Noch so ein Spruch. Und doch. Wir sind gewachsen. An der Herausforderung. Wir sind andere als noch vor ein paar Jahren. Mit einem Schlag lernt man Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Es ist nicht wichtig, welchen Sport das Kind treibt, mit welchen Freunden es sich umgibt. Es ist wichtig, dass es lebt. Es ist wichtig, dass es ihm so gut wie möglich geht in diesem Leben.

Manchmal fühlt es sich sogar ein bisschen wie eine Befreiung an. Befreit davon, an den üblichen Maßstäben gemessen zu werden. Wann muss ein Kind dies und jenes können. Was müssen wir als Eltern leisten, wie müssen wir sein, damit wir den gesellschaftlichen Normen der kleinen heilen Familie entsprechen. Aus diesen Bewertungen sind wir raus. Sie kümmern uns nicht mehr.

Und in noch etwas sind wir gewachsen. Es klingt fast ein wenig aus der Zeit gefallen, weil es in einer Welt, in der es um das Ego und dessen Optimierung geht, aus dem Blick gerät.

Wir haben Demut gelernt. Demut vor dem Leben. Es ist so zerbrechlich. Es kann so plötzlich alles so anders sein. Ob nun Unfall, Krankheit oder Gendefekt. Wir sind nicht davor geschützt. Niemand ist es. Auch das optimierte Selbst nicht. Nur, dass es dafür in seinem Bestreben blind wird.

Wir leben mit einem kranken Kind. Wir haben auf ein anderes, gesundes Leben gehofft. Aber: Wir sind glücklich in diesem Leben. Weil es schön ist. Und wertvoll.

Liebe seltene Fälle, wenn Ihr gerade eine schlimme Diagnose für Euch selbst oder Euer Kind bekommen habt, bitte verzagt nicht. Ihr habt etwas Schreckliches erlebt, vielleicht eine Situation, die Euch immer noch schwer belastet und nicht aus dem Kopf will? Es ist furchtbar. Gar keine Frage. Ihr fühlt Euch hoffnungslos und fragt Euch „warum ich“? Natürlich. Jedes Gefühl ist richtig. Aber ich kann Euch sagen: Es hört auf, so weh zu tun. Es wird besser. Mit Gesprächen, mit Austausch, mit Wissen aber vor allem mit der Zeit. Gebt sie Euch! Derweil erzählt uns gern davon. Das hilft. Versprochen. Herzlichst! Christiane

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2 comments

  1. Hallo Christiane, mir kamen die Tränen, als ich Deinen Artikel gelesen habe. Wie schrecklich muss es sich angefühlt haben. Wir wissen immer noch nicht, was genau unser Sohn hat, manchmal denke ich, es ist besser so. Mitfühlende Grüße von Julia

  2. Liebe Julia, ich danke Dir sehr für Dein Mitgefühl. Manchmal wünschte ich, ich hätte auch nie erfahren, was unser Bub hat. Wenn alles offen ist, ist auch alles möglich. Allerdings auch in alle Richtungen. Die Erinnerungen an die beschriebenen Situtionen werden uns allerdings vermutlich nie ganz loslassen. Aber mittlerweile sind zum Glück!) so viele schöne dazu gekommen, dass sie die anderen immer mehr verblassen lassen. Herzlichst! Christiane

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