Stimmt, sieht man nicht. Noch nicht. Und vor allem nicht auf den ersten Blick. Das ist zunächst einmal überaus erstaunlich – bei der Diagnose. Nicht weniger erstaunlich ist, dass das vor allem eine Frage aufzuwerfen scheint, nämlich die, wie die mangelnde Übereinstimmung zwischen Außen und Innen zu bewerten ist.
Wenn Bubi so dasteht und einen anlächelt, dann sieht er aus wie ein ganz normal entwickeltes Kind. Nicht der Größte und Kräftigste seiner Altersgruppe. Aber sonst eben wie ganz normaler Durchschnitt. Er hat keine auffälligen Hilfsmittel bei sich (außer so etwas Unspektakuläres wie die Brille, aber mit der sieht er eher überdurchschnittlich durchtrieben aus). Und er hat keinerlei körperliche Besonderheiten oder ein spezielles Aussehen. Auf den ersten Blick jedenfalls.
Ok, wenn er etwas schnelleren Schrittes unterwegs ist, dann sieht sein Gang etwas unkoordiniert und wackelig aus. Aber, wenn er so vor sich hinschlendert, mit seinen Händen in den Hosentaschen, was er ausgiebig und gern tut, dann merkt und sieht man nichts von seiner schwerwiegenden Einschränkung. Soweit der erste Blick.
Auf den zweiten Blick
Bei genauerem Hinschauen oder besser gesagt Hinhören kann man dann schon ein etwas anderes Bild bekommen. Bei Ansprache und je nachdem, wie tiefgründig man sich in das Gespräch verwickelt. Mit der Verkäuferin an der Supermarktkasse konnte er sich neulich prima unterhalten.
Sie: „Na, hast Du auch was eingekauft?“
Er: „Hm.“
Sie: „Und wie heißt Du?“
Er: „Nan.“
(Ich füge dann in der Regel hinzu, dass es der Spitzname ist, den er sich selbst gegeben hat.)
Sie: „Und gehst Du in den Kindergarten?“
Er: „Hm.“
Ist doch alles gesagt. Und keiner hat was gemerkt.
Vermutlich wird seine Behinderung im Laufe seines Lebens sichtbarer. Zum einen, weil sich möglicherweise die motorischen Einschränkungen verstärken. Dies ist bei seinem genetischen Defekt leider nicht ganz unwahrscheinlich. Aber auch, weil man eben nicht immer mit einem solch einsilbigen Gespräch wie an jener Supermarktkasse durchkommt. Zumindest aber dann irgendwie auffällig wird. Denn das Gesamtbild mag zwar noch zu einem Kind passen, nicht aber zu einem Jugendlichen oder Erwachsenen.
Ist das gut oder schlecht?
Die Frage, die uns schon häufiger gestellt wurde, ist die, ob es eigentlich irgendwie schwierig oder auch gut oder schlecht ist, dass es nicht so ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Ist es ein Vorteil oder eher nachteilig, dass man nicht sieht, dass das Kind krank oder behindert ist?
Aber warum sich über etwas den Kopf zerbrechen, was ohnehin nicht veränderbar ist? Es ist eben wie es ist: Sowohl die Behinderung als auch ihre bisherige Unsichtbarkeit. Also lohnt es, auf diese Frage eine Antwort zu finden?
Allemal ist eine wirklich seltsame Frage. Noch seltsamer war ein Gespräch, das wir vor längerer Zeit mit einem Künstler führten. Er hatte uns eine Installation zum Thema Familie gestaltet, und so kamen wir natürlich auch über diese ins Gespräch. Da bleibt das Thema „Sohn ist anders“ nicht aus. Der Künstler war der Ansicht, dass es im Grunde für keinen gut sein kann, wenn man nicht sieht, ob das Kind krank ist oder nicht. Für das Kind nicht, weil es so keine Rücksichtnahme erwarten kann. Für die Umwelt nicht, weil die nicht erkennen kann, dass man diese Rücksicht walten lassen muss. Seine vage Vorstellung die Einführung einer Kennzeichnung. So eine Art Behindertenarmbinde (als Pendant zur Blindenarmbinde, die man immer weniger sieht, oder?). Ich war sehr irritiert. Und irgendwie auch erschrocken. Warum?
Es hat etwas Stigmatisierendes. Was natürlich ein Rollstuhl oder eben die Blindenarmbinde auch haben. Mit dem Unterschied, dass der Rollstuhl als Hilfsmittel dabei ist, weil man ohne ihn nicht vorwärtskommt. Kann man sich nicht aussuchen. Dass das Dabeihaben eines Hilfsmittels per se eine Quelle für Vorurteile und Stigmatisierung, aber natürlich auch Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft sein können, wissen wir. Was überwiegt, hängt von der persönlichen Einstellung und den gesellschaftlichen Umständen ab. Oft ist es ein Mix aus allem.
Bei der Blindenarmbinde ist der Fall etwas anders gelagert. Der Blinde kann dadurch ja nicht besser sehen. Sie dient tatsächlich „nur“ der Kennzeichnung. In den Allgemeinen Regeln zur Teilnahme am Straßenverkehr heißt es:
“(1) Wer sich infolge körperlicher oder geistiger Beeinträchtigungen nicht sicher im Verkehr bewegen kann, darf am Verkehr nur teilnehmen, wenn Vorsorge getroffen ist, dass er andere nicht gefährdet. Die Pflicht zur Vorsorge, namentlich durch das Anbringen geeigneter Einrichtungen an Fahrzeugen, durch den Ersatz fehlender Gliedmaßen mittels künstlicher Glieder, durch Begleitung oder durch das Tragen von Abzeichen oder Kennzeichen, obliegt dem Verkehrsteilnehmer selbst oder einem für ihn Verantwortlichen.“
Hier entscheiden die Betroffenen zwar selbst, ob sie der Kennzeichnungsmaßgabe folgen oder nicht, allerdings sind sie dann – im Falle eines Unfalls oder Schadens – in der rechtlichen Auseinandersetzung. Da in der Straßenverkehrsordnung festgehalten ist, dass „Jeder Verkehrsteilnehmer (…) sich so zu verhalten (hat), dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird“ (§1 Abs. 2 StVO) entscheidet später das Gericht, ob hier ein Verschulden durch fehlende Kennzeichnung vorliegt oder nicht.
Dafür also die Blindenarmbinde. Ein rechtlicher und sicherheitsrelevanter Aspekt der Kennzeichnung. Um nichts anderes ging es dem Künstler. Sagte er. Ein Schutzzeichen, damit andere wissen, dass dieser Mensch (mit Behinderung) auf Hilfe angewiesen ist, bzw. sich möglicherweise anders verhält als der Durchschnittsmensch.
Es geht um gegenseitige Achtsamkeit und Rücksichtnahme. Das ist so besehen erstmal ja etwas Gutes. Aber dafür sollte es doch eigentlich keine Kennzeichnung brauchen! Oder?
Interessant war in dem Zusammenhang und in oben besagten Regeln die explizite Aufführung einer geistigen Beeinträchtigung. Das war mir nicht bewusst. Und es so zu lesen, schwarz auf weiß, hat mich ebenfalls irgendwie verstört. Auch wenn es natürlich nachvollziehbar ist, bedenkt man jetzt nur mal sicherheitsrelevante Aspekte des Straßenverkehrs.
Aber: Es geht doch um mehr!
Es geht um mehr, da eine solche Kennzeichnung eben immer auch eine Botschaft in sich trägt. Und wegen der (veränderten) Wahrnehmung der Person, die ein Abzeichen trägt, das die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe markiert. Das kann selbst bei so etwas Trivialem (diese Bewertung ist natürlich auch Sichtweise ;-)) wie dem Tragen eines Vereins-T-Shirts zum Problem werden. Nur können die Anhänger eines Vereins sich frei und bewusst dazu entscheiden.
Mit der Sichtbarkeit ist es bei uns Seltenen ja ohnehin immer so eine Sache. Sieht man nix, wird’s einem nicht geglaubt, wenn man´s sieht, dann wird nichts anderes mehr gesehen. Man wird darauf reduziert. Ist halt kein Kopfverband, der erst Eindruck (und Verständnis) macht, und irgendwann wieder abkommt. Mal abgesehen davon, dass eine temporäre Versehrtheit in unserer Gesellschaft immer noch anders wahrgenommen und bewertet wird als eine chronische Einschränkung und Behinderung. Letzteres wird gern als die ganze Person definierend gesehen.
Das eine HAT man, das andere IST man.
Und je nach Bewertung, Erfahrung, Vorwissen und Interesse der Umwelt wird man dann noch als brauchbar, leistungsfähig, … eingeschätzt oder eben nicht.
Auffälligkeiten
Nun ist es so, dass ich nicht sonderlich große Probleme damit habe, aufzufallen. Die leisen Töne und vor allem unauffälligen Farben sind meine Sache nicht. Das kann auch meine Umwelt nicht übersehen (siehe hier). Mir gefällt es auch sehr, wenn andere auffallen. Dann gibt es etwas zum Schauen und Hinterfragen. Das Leben ist bunt. Und interessant.
Und wenn ich es recht überlege, ist derjenige, der in unserer Familie am meisten vom Durchschnitt abweicht, zugleich der (noch) Unauffälligste. Bubi nämlich. Alle anderen sind irgendwie augenscheinlich auffällig. Ich kleidungsmäßig, mein Mann sozialmäßig und Blondie gerade im Moment sowieso ganz generell. Neulich beim Kinderturnen: Alle laufen rechts herum, sie links herum. Alle hüpfen auf einem Bein, sie geht auf alle Viere.
Bei dem Buben ist es so: Er lächelt, wenn man ihn anspricht, nickt höflich und antwortet erfrischend kurz und knapp. Das kommt gut an. Eigentlich bin ich es, die seine Andersartigkeit erklärend anbringt, wenn er auf komplexe Fragen nicht adäquat reagieren kann. Oder wenn er einen Anfall hat. Oder wenn er jedem Fremden mit großer Geste seine Lieblingseisenbahn entgegenstreckt.
Es ist ja nicht so, dass man gefragt wird, „Oh, hat Ihr Sohn eine Behinderung, oder warum gestikuliert er so wild?“
Bei einem Kopfverband würde man das vermutlich eher machen. Da ist die Gefahr, dass die Antwort etwas enthält, womit man möglicherweise nicht umgehen kann, nicht so groß. Denkt man jedenfalls. Aber die Antwort, die ich geben müsste, vor allem mit ihrer düsteren Prognose, wäre nicht so einfach an der Supermarktkasse zu verdauen. Kann ich das meinen Mitmenschen zumuten?
Die Folgen der bisherigen Unsichtbarkeit von Bubis Einschränkungen sind im Moment überschaubar. Oft wird er überschätzt. Das muss nicht schlecht sein, er wird so einfach in alles mit einbezogen. Darf alles erfahren. So erspare ich ihm zwar nicht die Misserfolge, wenn er die Anforderungen dann doch nicht bewältigen kann, aber er kann sich immer wieder ausprobieren und lernt bei jeder Hürde dazu. Das ist schön. Auch, dass er nicht gleich in einer Schublade steckt und dass das Umfeld keine Scheu hat, ihn anzusprechen.
Und eigentlich habe ich auch etwas Angst vor diesem Moment, der irgendwann kommen wird, wenn man ihm eben nicht mehr wie einem normalen Jungen begegnet.
Die Unauffälligkeit von Bubis Behinderung hatte bisher einen einzigen Nachteil. Man wollte mir sein ganzes erstes Lebensjahr nicht glauben, dass mit ihm irgendetwas nicht stimmt. Alle (einschließlich mehrerer Kinderärzte) sagten: „Das wird schon noch, Kinder entwickeln sich im ersten Lebensjahr ganz verschieden. Er ist halt ein kontemplativer Typ.“
Schön wär´s gewesen! War es aber nicht.
„Dann lass halt mal ein EEG machen, dann siehst Du, dass nix ist“, sagte mein Schwiegervater, seines Zeichens selbst Neuropädiater, und empfahl mir eine Kollegin.
Leider sah man dann doch sehr viel.
Liebe seltene Fälle, ist Eure Erkrankung oder die Eures Kindes sichtbar? Wie geht Ihr damit um? Oder kämpft Ihr eher damit, dass keiner etwas sieht und keiner Euch Euer Leiden abnimmt? Was habt Ihr erlebt? Wir freuen uns, wenn Ihr Eure Sichtbarkeits-Unsichtbarkeits-Erfahrungen mit uns teilt. Herzlichst! Christiane
Hallo Christiane, ich finde das sehr spannende Überlegungen. Ich habe es selbst immer als Nachteil empfunden, dass man meiner Tochter (mit Down-Syndrom) ihre Behinderung sofort ansieht. Jeder hat sich sofort seine Meinung über sie gebildet und keiner traut ihr etwas zu. Das geht so weit, dass man mich über ihren Kopf hinweg anspricht und fragt, ob sie vielleicht ein Stück Schokolade will. Dabei kann meine Tochter das sehr gut selber sagen und sie drängelt sich auch sofort dazwischen. Dann sind immer alle ganz erstaunt.
Liebe Svenja, vielen Dank für Deinen Kommentar und schön, dass Du dabei bist. Du sprichst es an: Es gibt noch so viele Unsicherheiten und Berührungsängste in unserer Gesellschaft. Viele Menschen wissen einfach nicht, wie sie sich um Umgang mit behinderten Menschen verhalten sollen. Gut, dass Du Deiner Tochter dann die Gelegenheit gibst, sich “einzumischen”! Herzlichst! Christiane