Die große Reise (4): Vom Fliegen oder: „Können Sie das abstellen?“

Seit mehr als fünf Jahren tragen wir einen Großteil der Zeit unseren besonderen Buben durch die Gegend, und da ist es in der Tat sehr verwunderlich, dass erst jetzt irgendjemand Rücken bekommt. Und eigentlich nur, weil der Bub sich weigerte, durch die Sicherheitsschleuse getragen zu werden.

In solchen Situationen wird uns immer wieder sehr bewusst, dass er eben nicht wie andere Kinder reagiert.

Die („normalen“) wollen ja auch das ein oder andere nicht, zetern und werfen sich auf den Boden und ziehen das ganze Ich-will-nicht-also-mach-ich-nicht-Programm durch. Wie Blondie halt. 

Nicht so Bubi, eine falsche Sache passiert (wobei falsch hier nur bedeutet, nicht seinen Erwartungen entsprechend oder ihm unbekannt), und für ihn geht die Welt unter. So geschehen an der Sicherheitsschleuse, Flughafen Hamburg. Komisches fremdes Ding, da gehe ich nicht durch. Auch nicht auf dem Arm. Fertig. Geschrei. Tränen. Husten. Und die Krönung der Aufregung: Sich übergeben. Dann kann man ihn nur packen und irgendwas machen. Was ist eigentlich egal, denn beruhigen tut er sich lange, lange nicht. 

Bei dieser Rangelei passierte es dann, Kind auf Arm, eine falsche Bewegung, Knacks, aaaahhhh. 

Aber was wäre die Welt und der Flughafen ohne Masseure. Tatsächlich war es überhaupt das allererste Mal, dass der Mann sich hat massieren lassen:

Da Mann nun ja (wenn auch etwas weicher gekneteten) Rücken hatte, habe ich halt den ganzen Quatsch getragen (4 Handgepäckstücke mit etwas beschönigten 7 kg Gewicht und ein 18 kg schweres Kind auf dem Arm).

Was man so alles (er)tragen kann! Ich staune immer wieder.

Und dann so weiter. 


Unwägbarkeiten

Heutzutage hat man im Flugzeug ja auch keine Ruhe mehr. Hatte mich schon auf das Entertainmentprogramm gefreut und hoffte, dass die Kinder irgendwann einschlafen. Aber kaum sitzt man und beginnt mit dem Studium des Spielfilmmenüs, kommt der erste Tablettwagen vorbeigerollt. Das gereichte Getränk landet zuverlässig auf Blondies Hose. Keine Wechselklamotten dabei. Man könnte denken, wir haben die Kinder erst seit gestern. Ich meine, wer vergisst schon Wechselklamotten?! Erst recht, wenn man damit rechnen muss, dass ein solches Missgeschick zu Nervenzusammenbrüchen führt wie bei unserem Sohn, dessen Windel dann wenig später überlief. Man muss ich fragen, wie verpeilt man eigentlich sein kann. 

Nicht nur, dass er noch innerlich aufgebracht von dem Vorfall an der Sicherheitsschleuse war, nasse Klamotten (auch zwei Regentropfen fallen unter diese Rubrik) bedeuten den Supergau. Immer.

Also wieder schreiendes Kind, die Leute glotzen, die freundlichen Stewardessen kommen in immer kleiner werdenden Abständen und fragen, ob sie irgendwas tun können. Eigentlich (übersetzt) bedeutet diese Frage „Können Sie das abstellen?“. Sagt natürlich keiner laut. Dann könnte man wenigstens antworten: „Nee, da ist nichts zu machen.“ Dann wäre das geklärt.

So fühlt man sich genötigt, wenigstens so zu tun, als hätte man alles unter Kontrolle. Haben wir aber nicht.

Dann eine weitere Herausforderung: Wie wickelt man ein fünfeinhalbjähriges Kind im Flugzeug? Was nicht geht: Auf dem Wickeltisch in der Bordtoilette. Die ist für Kinder, die maximal 10 Tage alt sind. Fragt man sich, wie viele Kinder in dem Alter wohl so durchschnittlich in einer Boing 777 nach Dubai fliegen. Die bleibt also unbenutzt. Gut das wir vier Sitze nebeneinander haben.

Immerhin haben wir Tablets mit diversem kindertauglichem Filmmaterial dabei und – auch immerhin – hat Bubi ein ausgeprägtes Faible für alles, was Räder hat. Dass diese Leidenschaft im Zusammenhang mit der Fehlentwicklung seines Großhirns  steht und auch autistische Verhaltensauffälligkeiten einschließt, sei an dieser Stelle nur am Rande erwähnt.

Es ist halt eine seiner vielen Auffälligkeiten.

Sein größter Freund jedenfalls ist Thomas, die Eisenbahn, und seit dem Flug nun auch das rote Rennauto aus „Cars“. Letzteres hielt das Bord-Entertainmentprogramm für unseren Sohn bereit, und er schaffte den Film (ohne Ton, da er sich weigerte, Kopfhörer aufzusetzen) auf der ersten Teilstrecke Hamburg – Dubai ganze dreieinhalb Mal. Ohne Pause. Ohne Schlafen.


Epileptisches Reisen

So, und das ist auch so eine Sache. Wir wissen mittlerweile, dass Schlafentzug, Sonnenlicht und möglicherweise auch andere grelle oder schnell wechselnde Bilder zu epileptischen Anfällen bei unserem Sohn führen können. Kann man sich überlegen, was man also macht und was man dafür in Kauf nimmt, um etwas anderes zu vermeiden. Wir entschieden, Bubi darf unbeschränkt seiner Fahrzeugleidenschaft nachkommen. So konnten wir alle die verbleibenden fünfeinhalb des sechstündigen ersten Fluges etwas durchatmen. Zumindest bis zum Landeanflug. Der Bub musste sich übergeben, dann weinen (erst wegen Übelkeit später wegen beschmutzter Hose und des Problems der fehlenden Wechselklamotten), dann schrie Blondie (wegen des Gestanks). Flugzeug landet, wie üblich alle Passagiere sofort im Gang und zum ungeöffneten Ausgang drängend. Handgepäckstücke werden ungeachtet unserer, auf dem Arm weinenden, Kinder aus den Ablagen gezogen.

In dieser ohnehin schon nicht völlig entspannten Situation bekommt Bubi einen epileptischen Anfall.

Wie immer unpassend. Wie immer schlimm. Wie immer interessant.

In diesem Falle besonders, weil es doch immer wieder erstaunlich ist, wie Menschen auf ihnen Fremdes reagieren. In der Regel ernten wir beunruhigte oder fragende Blicke, und manchmal bieten Menschen Hilfe an. Wir schätzen es im Allgemeinen sehr, wenn Leute Fragen stellen oder auch helfen wollen, anstatt nur zu schauen. Auch wenn sie nichts tun können, aber so lässt sich wenigstens in einem kurzen Satz Erklärendes sagen und alles geht irgendwie weiter.

Und wenn wir schon bei Standardkinderversorgungsdingen (siehe Einstecken von Wechselklamotten) versagen, so haben wir doch schon eine gute Routine bei eigentlichen Nicht-Routinen entwickelt. Dazu gehört der Umgang mit epileptischen Anfällen. Da unser Sohn von häufigen, fast täglichen, komplex-fokalen (diskognitiven) Anfällen heimgesucht wird, lernt man, sich damit zu arrangieren. Wir wissen, dass sie im Falle unseres Sohnes bis zu 20 Minuten andauern und dann bisher immer von selbst aufhörten, ohne dass wir ein Notfallmedikament geben mussten. Keiner kann uns verbindlich sagen, ob es besser wäre, ein derartiges zu verabreichen, um den Anfall zu unterbrechen, und keiner kann uns sagen, ob diese Anfälle zu weiteren Schädigungen des Gehirns führen.

Alle zucken mit den Schultern. Und wir halten einfach aus. So schwer das ist.

Und – eigentlich schlimm, weil sie es lernen musste, aber gut, dass sie es gelernt hat – unsere Dreijährige hält es auch einfach aus. Sie setzt sich neben ihren Bruder, streichelt ihn und wartet ab. Alle verharren, und es ist, als ob die Welt einen Moment einfriert. Wir versuchen, den Buben immer wieder anzusprechen und zu schauen, ob er schon „wieder da“ ist. Wir halten ihn im Arm, sofern er es zulässt. Bei unkontrollierten Bewegungen versuchen wir ihn zumindest von Dingen fern zu halten, die ihn verletzten könnten. Nicht mehr und nicht weniger.


Können Sie mal Platz machen?

Wir wissen, dass es erschreckend und beängstigend sein kann, einen epileptischen Anfall mit anzusehen. Wir wissen, dass viele Menschen lieber wegschauen, weil sie sich hilflos und überfordert fühlen. Es ist in Ordnung. Auch Fragen sind es. Fast jede Reaktion. Wir sind abgehärtet. Und verstehen.

Was uns aber doch etwas sprachlos zurück gelassen hat, ist die rücksichtslose Reaktion einiger Passagiere auf diesem Flug nach Dubai, die – ungeachtet unserer doch recht angespannten und sichtbar misslichen Lage – ihre Gepäckstücke genervt und ungeduldig an uns vorbeidrängten und laut stöhnend ihr Unverständnis kenntlich machten. Ein „Können Sie mal Platz machen“ war auch dabei. Wohl gemerkt, wir waren gerade erst gelandet, die Türen des Flugzeuges nicht geöffnet. „Wohin so eilig“ hätte man also beschwingt rufen können…..wie auch immer: Wir konnten uns nur müde den Kopf zuschütteln.

Aussteigen mit dem krampfenden Bub mussten wir dennoch irgendwann. Dann, mit Kindern und Gepäck auf dem Arm, hetzten wir zum Anschlussflug. Wir hatten, bereits mit dem Behindertenausweis wedelnd, in Hamburg eine „Transferhilfe“ für den Flughafen in Dubai angefragt, die dann darin bestand, dass ein schweigender, mit Warnweste bekleideter Araber den Rollstuhl von einem Gate zum nächsten schob. Bubi, mittlerweile wieder bei Sinnen, ließ es, ebenfalls schweigend, über sich ergehen. Müde Truppe. Aber pünktlich zum nächsten Flug.

Hinten in pink: Blondie; Transferhilfe in Warnweste den Buben schiebend; daneben Mann mit Rücken

Immerhin verlief der dann ohne weitere Zwischenfälle und ging – dank gleicher Fluggesellschaft und gleichem Unterhaltungsangebot – mit weiteren zwei Durchgängen „Cars“-Schauen über die Bühne.

Wir sind nun also endlich da: Sri Lanka, Colombo, 8:25 Uhr Ortszeit

Liebe seltene Fälle, habt Ihr Ähnliches erlebt auf Reisen? Oder welchen Herausforderungen begegnet Ihr auf Reisen? Wurdet Ihr auch schon einmal schräg angeschaut oder habt wenig mitfühlende Reaktionen von umstehenden Personen erlebt? Wie seid Ihr damit umgegangen? Ignorieren und einfach Weitermachen oder sollte man besser etwas sagen? Wir freuen uns über Kommentare zu diesem Thema. Herzlichst! Christiane

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