4,8 Gründe, den Diagnose-Marathon nicht aufzugeben

4,8 Jahre wartet der Durchschnittspatient im Bereich Seltener Erkrankungen. Worauf? Auf die richtige Diagnose! (1)

Bei mir selbst hat es ein Jahrzehnt gedauert, andere kommen auf bis zu 20 Jahre. Kann sich da der rätselhafte Patient die Suche nicht gleich sparen? Welche Strapazen sollen Eltern dem kranken Kind denn noch zumuten? Lies weiter. Vielleicht kommt am Ende ein anderer Gedanke, und der lautet: Jetzt erst recht!

Woran habe ich eigentlich geglaubt, als es mir immer schlechter ging und keiner herausfand, warum? Glaubte ich, dass die Ärzte etwas Gängiges übersahen? Glaubte ich, dass das Leiden reine Kopfsache ist, wie mir manche zu verstehen gaben? Oder glaubte ich an eine sogenannte Seltene Erkrankung, die nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen betrifft und nur schwer oder gar nicht erkannt wird?

Am ehesten sprang mein Glaube von einem zum anderen und wieder zurück. Der reinste Flohzirkus! Auf keinen Fall hätte ich vor einem Arzt auf das Vorhandensein einer als selten geltenden Erkrankung gepocht. Ob das ein Fehler war oder im Gegenteil besonders klug (schon die bloße Andeutung einer „Eigendiagnose“ kann manch Mediziner dir übel auslegen), werde ich nie erfahren. Fest steht, dass meine seltene Krankheit schließlich entdeckt wurde, weil ich mich auch nach vielen Jahren immer noch zu einem neuen Diagnostik-Anlauf aufraffte. Zerfleddert und innerlich erstarrt, aber doch irgendwie stoisch.

Klar, hinterher ist man immer schlauer. Nicht jeder Dauerpatient ohne medizinische Diagnose hat es tatsächlich mit einer Seltenen Erkrankung zu tun. Doch für jedes der 4,8 Jahre durchschnittlicher Diagnosedauer lässt sich auch ein Grund finden, den quälenden Marathon durch ärztliche Einrichtungen weiterzuführen:

1. Ohne exakte Diagnose keine Behandlung

Ohne exakte Diagnose keine Behandlung(swege)

Oder zumindest nicht die bestmögliche. So einfach ist das. Kaum zu glauben, doch im Spießrutenlauf durch sinnlose Wartestunden, beklemmende Untersuchungen, und ernüchternde Arztgespräche kann man das schon mal aus dem Blick verlieren. Mehr als einmal kam mir in den Sinn:

„Warum tust du dir das eigentlich weiter an?“

Ärzten übrigens auch. Einer meinte, wozu ich denn dem Verdacht des Kollegen auf Ehlers-Danlos-Syndrom weiter nachgehen möchte?

„Selbst wenn Sie das haben – da kann man dann ja eh nichts machen!“

Bewundernswerte Ignoranz! Stimmt, diese oder andere seltene Krankheiten sind nicht heilbar. Aber „machen“ kann man nun wirklich unendlich viel. Eine oft interdisziplinäre Therapie zum Beispiel beeinflusst die Auswirkungen der Krankheit. Manchmal sogar ihr Voranschreiten. Sowohl Ärzte als auch die Patienten selbst können bestimmte Risiken in Schach halten. Spezielle Förderung lässt Kinder Entwicklungsstufen erklimmen, die sie sonst nie erreicht hätten. Gerade bei ihnen ist die Früherkennung im Wettlauf gegen lebenseinschränkende Folgeerscheinungen zentral.

Für all das braucht es das Wissen darum, was mit dem Körper los ist. Und dieses Wissen ist – bei aller Akzeptanz von Ungewissheit! – zugleich ein Segen für das Seelenheil.

2. Seltene Erkrankungen sind nur jede für sich genommen selten

Seltene Erkrankungen sind nur jede für sich selten

Wie sagt man so schön? Kleinvieh macht auch Mist. Pro Seltener Erkrankung mögen zwar relativ wenige Menschen betroffen sein, aber: Bei etwa 8.000 bekannten seltenen Krankheiten sind es insgesamt doch geschätzte 350 Millionen. Fünf Prozent der aktuellen Weltbevölkerung. Vier Millionen allein in Deutschland.

Also gar nicht mal sooo abwegig, dass man es mit einer „Seltenen“ zu tun hat. Jedenfalls, wenn man sich an den wahrscheinlichsten Leidensursachen bereits abgearbeitet hat, und trotzdem eine breite Vielfalt an Störungen und Symptomen sprießt. Seltene Erkrankungen sind komplex und unberechenbar.

Das mit der Abwegigkeit sehen Ärzte bedauerlicherweise oft anders. Aus Gründen, die sogar nachvollziehbar sind, aber das ist ein anderes Thema. Wichtig ist, nicht selbst auf diesem Auge blind zu werden.

3. Die Psyche kann viel, aber nicht immer alles

Die Psyche kann viel, aber nicht immer alles

Apropos blind – einer meiner Ärzte hatte ein Lieblingsargument, mit dem er meinen desolaten Gesundheitszustand ausschließlich der Psyche zuschrieb:

„Sie können ja sogar Ihr Augenlicht verlieren, und es ist psychisch bedingt!“

Damit ist für viele Mediziner die Diskussion beendet. Bis hierhin nichts Körperliches gefunden? Kann nur die Psyche sein! Wobei seelisches Erblinden bei näherer Betrachtung auch nicht gerade häufiger vorkommt als eine Seltene Erkrankung körperlicher Art. Wie seltsam, davon trotzdem häufiger zu hören.

„Körper oder Psyche“ ist ohnehin das falsche Mantra. Zweifellos beeinflussen seelische Vorgänge die Gesundheit massiv – doch fehlende Gesundheit schlägt eben auch auf die Psyche. Man könnte meinen, wenn die Psychotherapie keine Abhilfe schafft, sagen Psychologen auch mal sowas wie ihre Medizinerkollegen:

„Sie können ja sogar schizophrene Episoden haben, und es ist körperlich bedingt!“

Sowas gibt es nämlich (2). Hört man aber nicht.

Ich begann also irgendwann mit Psychotherapie & Co. Dazu beglückwünsche ich mich noch heute. Aber körperlich ging es trotzdem über Jahre weiter bergab. Hätte ich da nicht von meinen Ärzten erwarten dürfen, dass sie auch noch die allerletzte unwahrscheinliche körperliche Hypothese in Betracht ziehen und abklären lassen? Oder manche Tests stumpf wiederholen? Leider hatten die meisten spürbar die Lust verloren.

Erst nach einem denkwürdigen Streitgespräch (manchmal muss ein Patient tun, was ein Patient tun muss) wurde die renommierte Neurologische Abteilung einer Klinik aktiviert. Unter einer Bedingung: Wenn da wieder nichts bei rumkäme, sollte ich mich in einer Psychosomatischen Klinik stationär behandeln lassen. Die Psychotherapie wäre ja bisher „nur“ ambulant erfolgt.

Ein Einwand, den ich zum ersten Mal hörte. Als hätte ich mich allem anderen zuvor verschlossen! Quizfrage: Woher soll der maximal erschöpfte Multi-Patient (oder seine Begleitung) wissen, wie das große psychosomatische Rad richtig zu drehen ist, wenn keine konkreten Vorschläge kommen?

Heutzutage würde ich mich ohne solche Vorschläge nicht vom Fleck rühren und einen Deal wie oben sogar selbst anregen. Am besten zu einem Zeitpunkt, wo noch kein Streit vom Zaun bricht, weil alle Beteiligten übernächtigt und am Limit sind. In der Neurologie haben sie mich schließlich eine Woche noch mal auf den Kopf gestellt. Und dann kam da doch was bei rum. Tatatataaaaa:

„Sie haben Myasthenia Gravis! Wir sind selbst ganz überrascht.“

4. Die Hoffnung stirbt zuletzt – mit Recht!

Die Hoffnung stirbt zuletzt – mit Recht!

Laut Befragung besuchen wir mit Seltenen Erkrankungen typischerweise acht Ärzte, vier Ambulanzen und vier Spezialisten, bevor wir erfahren, dass eine solche vorliegt (3). Wobei wir unterwegs zwei bis drei Fehldiagnosen erhalten und neben den gesundheitlichen Belastungen noch wirtschaftliche und soziale dazu bekommen.

Ich persönlich habe bis zu meiner Diagnose nicht 16, sondern mehrere Dutzend medizinische Institutionen verschlissen. Es ist nicht so, dass es gar keine Diagnosen gab, aber keine erklärte auch nur annähernd das Gesamtbild (und manche waren in der Tat falsch). Oft war ich kurz davor, einfach aufzugeben: die Suche, das Ringen mit den Ärzten, das Zusammenreißen, mich.

Ich musste lernen, die Hoffnung nicht aufzugeben, und sei es nur die auf ein Wunder, welches der Mediziner „Spontanheilung“ nennt. Andererseits gab es da mal eine eher spirituell arbeitende Therapeutin. Die wünschte mir überraschend handfest …

… so ein Trüffelschwein von Arzt, das nicht locker lässt, bis es die körperliche Ursache ausgegraben hat.

Von einer solchen war sogar sie überzeugt. Spontanwunder-Gedanken und die Verheißung vom strahlenden Trüffelschwein haben mich durch übelste Zeiten getragen! Und irgendwie ist es dann auch ein bisschen so gekommen.

Wenn man aufgibt, kann man sie nicht finden: die Ärztin mit dem passenden Fachwissen, den Therapeuten, der genau so einen Fall schon mal hatte, oder den entscheidenden Laborparameter im Blut – wie bei mir. Nicht, dass man den nicht vorher schon mal getestet hätte. Aber das Biest zeigt sich eben nicht immer und bei jedem Patienten. Soll man da jetzt lachen oder weinen?

Egal, wofür man sich entscheidet, nach der Diagnose einer Seltenen hört diese mitnichten auf, komplex und unberechenbar zu sein. Trotzdem hat sich bei mir schnell bestätigt: Für eine vernünftige Behandlung und mehr Lebensqualität (s. Grund eins) ist die Sache Gold wert!

4,8. Das Interesse an seltenen Krankheiten nimmt zu

Der letzte Grund, im Diagnostikmarathon nicht zu verzweifeln, ist Stand heute vielleicht tatsächlich erst 0,8 Einheiten wert. Er ist nämlich noch nicht voll da, sprich: Es geht um zukunftsträchtige Entwicklungen. Im Trend wenden sich Ärzte und Pharma den “Waisenkindern der Medizin” mehr zu, habe ich gerade in einem Beitrag der Ärzte Zeitung gelesen (4). Vor allem Fachärzte wissen wohl immer mehr, außerdem heißt es: Im Zweifel ab ins Spezialzentrum!

In einem der damals wenigen Zentren für seltene bzw. unerkannte Erkrankungen unterzukommen, habe ich selbst mir nie Chancen ausgerechnet. Um dort ganz vorn in die Warteschlangen zu rücken, war ich einfach nie schlimm genug dran. Was traurig ist – oder vielmehr war. Denn die Zahl dieser Zentren in Deutschland steigt und liegt laut „Research for Rare“ (Forschung für seltene Erkrankungen) heute bei 32 Institutionen mit unterschiedlichen Schwerpunkten.

Elf davon rücken endlich auch dem Mantra von “Körper oder Psyche” zu Leibe (Projekt ZES-Duo). Ebenso vielversprechend sind Anlaufstellen, wo Ärzte sich für ihre Patienten schlau machen können oder Betroffene und Angehörige Unterstützung finden. Eine Auswahl findet sich hier in der Service-Rubrik. Wer uns von eigenen Erfahrungen dazu berichten oder andere ergänzen mag, dem sei herzlich gedankt.

Die heutigen Vernetzungsmöglichkeiten verbessern übrigens die Aussichten in der Forschung.

Bei Seltenen kann man ja naturgemäß lange suchen, bis genug Betroffene zum Beforschen beisammen sind.

Schon allein dieses Problem wird durch Vernetzung und Globalisierung entschärft. Und auch die Chancen, bisher unentdeckte Erkrankungen ans Licht zu bringen, mehren sich damit. Wenn man bedenkt, dass ohnehin 80% aller Seltenen Erkrankungen genetisch bedingt sind (auch wenn sich viele erst im weiteren Verlauf des Lebens nach und nach voll auswirken), kommt die Humangenetik ins Spiel. Und wo kündigen sich heutzutage größere Fortschritte an als dort?

All das bedeutet …

…, dass eine Diagnose immer noch kommen kann, wo bisher keine (hinreichende) war. Wenn du das willst, musst du dranbleiben. Oft genug lassen das dein körperlicher oder mentaler Zustand nicht zu. Oder der deines Kindes. Du brauchst Pausen. Du landest (erneut) in der Notaufnahme, wo du selten schlauer wieder rauskommt als rein. Du hast grad mal Energie für das Allernotwendigste, und falls das eh schon von deiner Familie, Freunden oder Externen übernommen wird, willst du ihnen nicht noch mehr aufhalsen.

Den Diagnostikmarathon nicht aufzugeben, ist anstrengend, zermürbend, traumatisch – gelegentlich auch ein bisschen asozial. Wenn es also etwas gibt, was ich gern großzügig mit der Schöpfkelle verteilen würde, dann dies: übermenschliche Kräfte und zwischenmenschlicher Beistand. Hier, bitte – nimm!

Liebe seltene Fälle, wie lang hat es bei Euch gedauert, bis die richtige Diagnose stand? Oder wie lange wartet Ihr schon ohne bahnbrechende Erkenntnis? Es stimmt, Durchhalteparolen wie in diesem Text kann jeder! Wie aber schafft man es, im Marathon bei der Stange zu bleiben? Wovon auch immer Ihr berichten mögt, wir sehen uns unten in den Kommentaren! Herzlichst: Sandra


Quellen:

(1) Engel, P., Bagal, S., Broback, M. & Boice, N. (2013). Physician and patient perceptions regarding physician training in rare diseases: the need for stronger educational initiatives for physicians. Journal of Rare Disorders 1(2):1–15.

(2) Fehldiagnosen: Wie der Körper die Seele krank macht. spektrum.de, 01.02.2019.

(3) Rare Disease Impact Report 2013: Insights from patients and the medical community.

(4) Wenn keine Diagnose gestellt werden kann. Ärzte Zeitung, 08.08.2018.

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